Montag, 6. Mai 2019

Offener Brief von Silke Buchholz an die "Wohlfahrtspflege" zum Teilhabechancengesetz

OFFENER BRIEF AN DIE BAGFW
(Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege: Diakonie, Caritas, Parität, Rotes Kreuz, ZWST)
ZU IHRER STELLUNGNAHME ZUM TEILHABECHANCENGESETZ
( In Kraft getreten am 01.Januar 2019)


In dem Brief wähle ich die männliche Grundform, meine aber immer auch Frauen (die sogar besonders, wenn es um Erwerbslosigkeit und Arbeit geht, da Frauen aufgrund ihrer Körperlichkeit und ihrer selbstgewählten oder zugewiesenen Aufgaben sowie einem immer noch unsolidarischem, patriarchalem Gesellschaftssystem von Armut und Erwerbslosigkeit nach wie vor besonders betroffen sind).

 

Sehr geehrte Damen und Herren der BAGFW ,

Mit der Verabschiedung des Teilhabechancengesetzes durch SPD/CDU wurden entrechtete Arbeitnehmer im ersten Arbeitsmarkt geschaffen, die nicht weit von den ursprünglichen Plänen der Hartz- Gesetze entfernt sind, Ein - Euro - Jobber im ersten Arbeitsmarkt einzusetzen. Das ist ein Skandal! Man könnte es auch Sklaverei nennen und ich halte das jetzige Gesetz für grundgesetzwidrig.

Es ist ja sehr ehrenwert, dass Sie fordern, dass Erwerbslose nicht sanktioniert werden dürften, sondern die Freiwilligkeit an dieser Eingliederungsmaßnahme(§ 16 e und 16 i) der Betroffenen sowie Sozialversicherungsabgaben und dieTariflohnförderung/Orientierung der Förderung am üblicherweise gezahlten Lohn fordern.
Das ist gut, und ich bin Ihnen dankbar dafür.
Doch die Politik hat daraus gemacht: Arbeitslosenversicherung soll nicht gezahlt werden. Die Betroffenen sollen bei Weigerung, die Arbeit oder das begleitende Coaching anzunehmen offenbar sanktioniert werden können. Ob betriebliche Altersvorsorge gezahlt wird, konnte ich nicht herausfinden.

Ein begleitendes Coaching zu fordern, wie Sie es tun - und wie es vom Gesetzgeber verabschiedet wurde - noch dazu im selben Betrieb, in dem der Betroffene arbeitet, soweit kompetentes Personal vorhanden, ist eine Beleidigung für alle Betroffenen. Die Menschen sind alle erwachsen - wenn sie Hilfe benötigen, werden sie sicherlich darum bitten. Erst recht ist es eine Beleidigung und sogar eine seelische Qual und Entwürdigung, wenn über all dem die Drohung von Sanktionen steht, wofür der Gesetzgeber ja gesorgt hat und womit Sie rechnen mussten.
Sie wünschen, dass auf die “Feststellung von Vermittlungshemmnissen” verzichtet wird. Das empfinde ich als scheinheilig! Ihre ganze Sichtweise, wie Sie in Ihrer Stellungnahme zum Teilhabechancengesetz zu lesen ist, zeigt, dass Sie die betroffenen Arbeitnehmer als äußerst vermittlungsgehemmt ansehen und nicht etwa den Arbeitsmarkt oder das gesamte Arbeitssystem kritisieren.
Dass Sie ausdrücklich befürworten diese Eingliederungsmaßnahme auf den ersten, privaten Arbeitsmarkt auszuweiten (auch das wurde vom Gesetzgeber verabschiedet) ist ein Schlag ins Gesicht für alle Arbeitnehmer. Denn gefördert werden hier in erster Linie die Betriebe durch Lohnsubventionierungen von 70% bis 100% (§16e, §16i). Damit werden wieder die Taschen der Arbeitgeber gefüllt, Gelder, die woanders besser aufgehoben wären, z.B. endlich in wirklicher Bildung für die, die keine Ausbildung haben oder eine andere Ausbildung brauchen- und zwar ihren Wünschen gemäß.*
Es ist abzusehen, dass nach Ende der Förderung und der Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers die betroffenen Arbeitnehmer wieder in die Erwerbslosigkeit zurückfallen werden, und zwar - weil Arbeitslosenversicherung nicht gezahlt wird - wieder direkt in das ALG II-System. Alle bisherigen Fördermodelle im ersten Arbeitsmarkt (z.B. Hamburger Modell) können das denke ich belegen. Es gibt eben doch Mitnahmeeffekte.
Sie aber sagen in anderen Worten aus, dass es von Arbeitgeberseite keine Mitnahmeeffekte geben würde, weil die betroffenen Arbeitnehmer mehr Aufwand verursachen würden als dass man Profit aus ihnen schlagen könnte. Auch das ist äußerst beleidigend. Eine Einarbeitungsphase braucht jeder, der in einem Beruf neu einsteigt. Ich weiss nicht, warum es Langzeiterwerbslosen offenbar nicht verziehen wird, wenn sie berufliche Anfänger sind und so getan wird, als seien sie besonders unfähig. Es ist das gleiche Horn, in das seit Jahren geblasen wird und immer wieder die Schuld bei den Erwerbslosen sucht.

Den Arbeitgebern des ersten privaten Arbeitsmarktes, die einen Betroffenen einstellen, soll vom Staat - und damit dem Steuerzahler - der gesamte Lohn für sie als Arbeitnehmer gezahlt werden.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen:
Der Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes wird dafür bezahlt, dass er den Arbeitnehmer einstellt; Das ist mehr als ein schlechter Witz - Es ist eine Verhöhnung der betroffenen Arbeitnehmer.
Kein Arbeitsplatz, der Profit abwirft darf auf diese Weise staatlich subventioniert werden.
Und überhaupt; woher sollen denn diese Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt so plötzlich kommen, wenn es wirkliche Arbeitsplätze sind? Sie können nur da entstehen, wo andere Menschen dafür verdrängt werden. Oder geht es hier nur um Beschäftigungstherapie-Zwang, so wie bisher nur allzu oft? - Dafür braucht man nicht den ersten Arbeitsmarkt.
Über das Streikrecht wurde in diesem Zusammenhang von Ihrer Seite überhaupt nicht gesprochen. Es ist zu vermuten, dass dieser Personenkreis nicht streiken darf. Das hebelt die Kraft ALLER Arbeitskämpfe aus. - Nicht nur die der Betroffenen. Das ist absolut inakzeptabel.

Das Alles ist nicht nur für Betroffene sondern für ALLE Arbeitnehmer sehr schlecht.

Helfen sie Erwerbslosen, sich zu befreien! Fordern Sie am besten das bedingungslose Grundeinkommen - damit würden Sie ALLEN Arbeitnehmern helfen(Sie helfen nicht, wenn sie zulassen, dass Arbeiten nach §16 i und 16 e sowie das Coaching unter Sanktionsandrohungen geleistet werden müssen) Und hören Sie auf, sie zu demütigen und zu degradieren und so zu tun als sei Erwerbsarbeit das wichtigste im Leben, egal zu welchen Bedingungen. Erwerbsarbeit ist nicht das Glück des Lebens! Wohl aber ist vielleicht eine Aufgabe und Anerkennung im Leben wichtig für´s Zufrieden-Sein, die nicht unbedingt mit Erwerb zu tun haben muss sowie ausreichend Geld auch für die soziale Teilhabe (damit meine ich z.B. die Möglichkeit, nach einem Theater- Probeabend noch mit den Anderen in eine Kneipe oder Restaurant gehen zu können, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist, und kulturelle Teilhabe sowie Achtung und Respekt.
Der Mensch möchte frei sein - er hasst jede Art von Unterdrückung und Demütigung sobald er sie selbst merkt. So etwas erzeugt Gegenwehr. Manch Erwerbsloser wäre vielleicht noch viel aktiver, als er es sowieso schon ist, wenn er die ständige Existenzbedrohung, Gängelung, Erniedrigung und auch Behinderung im beruflichen Weiterkommen durch die Jobcenter nicht ständig erfahren müsste.

Mit alldem werden alle guten Wünsche Ihrerseits zunichte gemacht.
Und leider sind ja auch Sie als Vereinigung von Wohlfahrtsverbänden, die Menschen helfen wollen und einen gewissen Einfluss als Ratgeber der Regierung besitzen, zugleich Profiteure des Teilhabechancengesetzes, können es zumindest sein,
und ich würde mich sehr wundern, wenn Sie diese rechtlosen Arbeitskräfte nach dem Teilhabechancengesetz nicht in Anspruch nehmen würden.
Ich rate Ihnen aber: tun Sie es nicht, solange Ihre Forderung nach Freiwilligkeit und den vollen Sozialversicherungsabgaben (also auch die Arbeitslosenversicherung, und auch die betriebliche Altersvorsorge) sowie auch das Streikrecht nicht erfüllt sind. Denn solange diese Dinge nicht erfüllt sind und den Betroffenen nicht ausdrücklichst vom Arbeits-Vermittler gesagt wird, dass es freiwillig ist, machen Sie sich als Gutmenschen, die nur das Beste für die erwerbslosen Arbeitnehmer wollen, absolut unglaubwürdig und ziehen möglicherweise sogar den inneren Groll von Erwerbslosen und auch anderen Arbeitnehmern auf sich (Meinen Groll haben Sie schon). Ihr Ansehen würde auf jeden Fall Schaden nehmen.


*(Man könnte z.B. erwerbslosen Menschen die Lebenshaltungskosten für ein Studium gewähren oder um Abitur zu machen oder auch nur die mittlere Reife (und zwar nicht nur an Abendschulen- da können nämlich Alleinerziehende nicht hingehen, und andere haben nicht die Kraft zu arbeiten und zur Schule/Studium zu gehen, sondern tagsüber) - warum streiten Sie nicht dafür? - Oder tun Sie es bereits und ich weiss es nur nicht?
Ich kannte eine Alleinerziehende, die, weil sie abhängig von ALG II wurde, ihr Studium abbrechen musste – davon, ein Studium zu beginnen, können ALG II- Bezieher nur träumen. Selbst einen Jugendlichen, der unter ALG II aufgewachsen ist und sein Abitur machen wollte, kannte ich, der deswegen in Schwierigkeiten mit dem Jobcenter geraten ist. Was aus dem Jugendlichen geworden ist, weiss ich nicht.
Und auch Erst-Ausbildungen, die ALG-II-Bezieher sich wünschen und zu denen sie sich sogar schon erfolgreich angemeldet haben, werden scheinbar systematisch von den Jobcentern verhindert.
Eine 30-jährige wollte darüber hinaus eine Umschulung machen, da sie aus ihrem alten Beruf herausgemobbt wurde, ihn auch nicht mehr ertragen konnte und keine Arbeit mehr fand - schon da (mit 30 Jahren!) wurde ihr vom Jobcentersachbearbeiter in fast empörten Tonfall klar gemacht, dass sie doch schon viel zu alt sei, wie sie nur auf so was kommen kann. - Und das bei einer Arbeitspflicht bis 67!)



Mit freundlichen Grüßen,

Silke Buchholz

Datum: 06.05.2019



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Eine erste Mai Rede von Silke Buchholz ebenfalls zum Teilhabechancengesetz, Hartz IV, Klassismus und Rassismus



Übrigens: der offene Brief von Christel T. "Kein Rechtsfriede ohne Grundrechte - kein Rechtsfriede mit Sanktionen" https://www.openpetition.de/!sanktionen
Kann immernoch unterzeichnet und diskutiert werden!

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