OFFENER
BRIEF AN DIE BAGFW
(Bundesarbeitsgemeinschaft
der freien Wohlfahrtspflege: Diakonie, Caritas, Parität, Rotes
Kreuz, ZWST)
ZU
IHRER STELLUNGNAHME ZUM TEILHABECHANCENGESETZ
(
In Kraft getreten am 01.Januar 2019)
In
dem Brief wähle ich die männliche Grundform, meine aber immer auch
Frauen (die sogar besonders, wenn es um Erwerbslosigkeit und Arbeit
geht, da Frauen aufgrund ihrer Körperlichkeit und ihrer
selbstgewählten oder zugewiesenen Aufgaben sowie einem immer noch
unsolidarischem, patriarchalem Gesellschaftssystem von Armut und
Erwerbslosigkeit nach wie vor besonders betroffen sind).
Sehr geehrte Damen und Herren der BAGFW ,
Mit
der Verabschiedung des Teilhabechancengesetzes durch SPD/CDU wurden
entrechtete Arbeitnehmer im ersten Arbeitsmarkt geschaffen, die nicht
weit von den ursprünglichen Plänen der Hartz- Gesetze entfernt
sind, Ein - Euro - Jobber im ersten Arbeitsmarkt einzusetzen. Das ist
ein Skandal! Man könnte es auch Sklaverei nennen und
ich halte das jetzige Gesetz für grundgesetzwidrig.
Es
ist ja sehr ehrenwert, dass Sie fordern, dass Erwerbslose nicht
sanktioniert werden dürften, sondern die Freiwilligkeit
an dieser Eingliederungsmaßnahme(§ 16 e und 16 i) der Betroffenen
sowie Sozialversicherungsabgaben und
dieTariflohnförderung/Orientierung der Förderung am üblicherweise
gezahlten Lohn fordern.
Das
ist gut, und ich bin Ihnen dankbar dafür.
Doch
die Politik hat daraus gemacht: Arbeitslosenversicherung soll nicht
gezahlt werden. Die Betroffenen sollen bei Weigerung, die Arbeit oder
das begleitende Coaching anzunehmen offenbar sanktioniert werden
können. Ob betriebliche Altersvorsorge gezahlt wird, konnte ich
nicht herausfinden.
Ein
begleitendes Coaching zu fordern, wie Sie es tun - und wie es vom
Gesetzgeber verabschiedet wurde - noch dazu im selben Betrieb, in
dem der Betroffene arbeitet, soweit kompetentes Personal vorhanden,
ist eine Beleidigung für alle Betroffenen. Die Menschen sind alle
erwachsen - wenn sie Hilfe benötigen, werden sie sicherlich darum
bitten. Erst recht ist es eine Beleidigung und sogar eine seelische
Qual und Entwürdigung, wenn über all dem die Drohung von Sanktionen
steht, wofür der Gesetzgeber ja gesorgt hat und womit Sie
rechnen mussten.
Sie
wünschen, dass auf die “Feststellung von Vermittlungshemmnissen”
verzichtet wird. Das empfinde ich als scheinheilig! Ihre ganze
Sichtweise, wie Sie in Ihrer Stellungnahme zum Teilhabechancengesetz
zu lesen ist, zeigt, dass Sie die betroffenen Arbeitnehmer als
äußerst vermittlungsgehemmt ansehen und nicht etwa den Arbeitsmarkt
oder das gesamte Arbeitssystem kritisieren.
Dass
Sie ausdrücklich befürworten diese Eingliederungsmaßnahme auf den
ersten, privaten Arbeitsmarkt auszuweiten (auch das wurde vom
Gesetzgeber verabschiedet) ist ein Schlag ins Gesicht für alle
Arbeitnehmer. Denn gefördert werden hier in erster Linie die
Betriebe durch Lohnsubventionierungen von 70% bis 100% (§16e,
§16i). Damit werden wieder die Taschen der Arbeitgeber
gefüllt, Gelder, die woanders besser aufgehoben wären, z.B. endlich
in wirklicher Bildung für die, die keine Ausbildung haben oder eine
andere Ausbildung brauchen- und zwar ihren Wünschen gemäß.*
Es
ist abzusehen, dass nach Ende der Förderung und der
Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers die betroffenen
Arbeitnehmer wieder in die Erwerbslosigkeit zurückfallen werden, und
zwar - weil Arbeitslosenversicherung nicht gezahlt wird - wieder
direkt in das ALG II-System. Alle bisherigen Fördermodelle im ersten
Arbeitsmarkt (z.B. Hamburger Modell) können das denke ich belegen.
Es gibt eben doch Mitnahmeeffekte.
Sie
aber sagen in anderen Worten aus, dass es von Arbeitgeberseite keine
Mitnahmeeffekte geben würde, weil
die betroffenen Arbeitnehmer mehr Aufwand verursachen würden als
dass man Profit aus ihnen schlagen könnte. Auch
das ist äußerst beleidigend. Eine Einarbeitungsphase
braucht jeder, der in einem Beruf neu einsteigt. Ich weiss nicht,
warum es Langzeiterwerbslosen offenbar nicht verziehen wird, wenn
sie berufliche Anfänger sind und so getan wird, als seien sie
besonders unfähig. Es ist das gleiche Horn, in das seit Jahren
geblasen wird und immer wieder die Schuld bei den Erwerbslosen sucht.
Den
Arbeitgebern des ersten privaten Arbeitsmarktes,
die einen Betroffenen einstellen, soll vom Staat - und damit dem
Steuerzahler - der gesamte Lohn für sie als Arbeitnehmer gezahlt
werden.
Das
muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen:
Der
Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes wird dafür bezahlt, dass er
den Arbeitnehmer einstellt; Das ist mehr als ein schlechter Witz -
Es ist eine Verhöhnung der betroffenen Arbeitnehmer.
Kein Arbeitsplatz, der Profit abwirft
darf auf diese Weise staatlich subventioniert werden.
Und
überhaupt; woher sollen denn diese Arbeitsplätze am ersten
Arbeitsmarkt so plötzlich kommen, wenn es wirkliche Arbeitsplätze
sind? Sie können nur da entstehen, wo andere Menschen dafür
verdrängt werden. Oder geht es hier nur um
Beschäftigungstherapie-Zwang, so wie bisher nur allzu oft? - Dafür
braucht man nicht den ersten Arbeitsmarkt.
Über
das Streikrecht wurde in diesem Zusammenhang von Ihrer Seite
überhaupt nicht gesprochen. Es ist zu vermuten, dass dieser
Personenkreis nicht streiken darf. Das hebelt die Kraft ALLER
Arbeitskämpfe aus. - Nicht nur die der Betroffenen. Das ist absolut
inakzeptabel.
Das
Alles ist nicht nur für Betroffene sondern für ALLE Arbeitnehmer
sehr schlecht.
Helfen
sie Erwerbslosen, sich zu befreien! Fordern Sie am besten das
bedingungslose Grundeinkommen - damit würden Sie ALLEN Arbeitnehmern
helfen(Sie helfen nicht, wenn sie zulassen, dass Arbeiten nach
§16 i und 16 e sowie das Coaching unter Sanktionsandrohungen
geleistet werden müssen) Und hören Sie auf, sie zu demütigen und
zu degradieren und so zu tun als sei Erwerbsarbeit das wichtigste im
Leben, egal zu welchen Bedingungen. Erwerbsarbeit ist nicht das Glück
des Lebens! Wohl aber ist vielleicht eine Aufgabe und Anerkennung im
Leben wichtig für´s Zufrieden-Sein, die nicht unbedingt mit
Erwerb zu tun haben muss sowie ausreichend Geld auch für die soziale
Teilhabe (damit meine ich z.B. die Möglichkeit, nach einem Theater-
Probeabend noch mit den Anderen in eine Kneipe oder Restaurant gehen
zu können, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist, und
kulturelle Teilhabe sowie Achtung und Respekt.
Der
Mensch möchte frei sein - er hasst jede Art von Unterdrückung und
Demütigung sobald er sie selbst merkt. So etwas erzeugt
Gegenwehr. Manch Erwerbsloser wäre vielleicht noch viel aktiver, als
er es sowieso schon ist, wenn er die ständige Existenzbedrohung,
Gängelung, Erniedrigung und auch Behinderung im beruflichen
Weiterkommen durch die Jobcenter nicht ständig erfahren müsste.
Mit
alldem werden alle guten Wünsche Ihrerseits
zunichte gemacht.
Und
leider sind ja auch Sie als Vereinigung von
Wohlfahrtsverbänden, die Menschen helfen wollen und einen gewissen
Einfluss als Ratgeber der Regierung besitzen, zugleich Profiteure des
Teilhabechancengesetzes, können es zumindest sein,
und
ich würde mich sehr wundern, wenn Sie diese rechtlosen Arbeitskräfte
nach dem Teilhabechancengesetz nicht in Anspruch nehmen würden.
Ich
rate Ihnen aber: tun Sie es nicht, solange Ihre Forderung nach
Freiwilligkeit und den vollen Sozialversicherungsabgaben (also auch
die Arbeitslosenversicherung, und auch die betriebliche
Altersvorsorge) sowie auch das Streikrecht nicht erfüllt sind. Denn
solange diese Dinge nicht erfüllt sind und den Betroffenen nicht
ausdrücklichst
vom Arbeits-Vermittler gesagt wird, dass es freiwillig
ist, machen Sie sich als Gutmenschen, die nur das Beste für die
erwerbslosen Arbeitnehmer wollen, absolut unglaubwürdig und ziehen
möglicherweise sogar den inneren Groll von Erwerbslosen und auch
anderen Arbeitnehmern auf sich (Meinen Groll haben Sie schon). Ihr
Ansehen würde auf jeden Fall Schaden nehmen.
*(Man
könnte z.B. erwerbslosen Menschen die Lebenshaltungskosten für ein
Studium gewähren oder um Abitur zu machen oder auch nur die mittlere
Reife (und zwar nicht nur an Abendschulen- da können nämlich
Alleinerziehende nicht hingehen, und andere haben nicht die Kraft zu
arbeiten und zur Schule/Studium zu gehen, sondern tagsüber) -
warum streiten Sie nicht dafür? - Oder tun Sie es bereits und ich
weiss es nur nicht?
Ich
kannte eine Alleinerziehende, die, weil sie abhängig von ALG II
wurde, ihr Studium abbrechen musste – davon, ein Studium zu
beginnen, können ALG II- Bezieher nur träumen. Selbst einen
Jugendlichen, der unter ALG II aufgewachsen ist und sein
Abitur machen wollte, kannte ich, der deswegen in Schwierigkeiten mit
dem Jobcenter geraten ist. Was aus dem Jugendlichen geworden ist,
weiss ich nicht.
Und
auch
Erst-Ausbildungen,
die ALG-II-Bezieher
sich wünschen und zu denen sie sich sogar schon erfolgreich
angemeldet haben, werden scheinbar systematisch von den Jobcentern
verhindert.
Eine
30-jährige wollte darüber
hinaus eine Umschulung
machen, da sie aus ihrem
alten Beruf herausgemobbt
wurde, ihn auch nicht
mehr ertragen konnte und keine Arbeit mehr fand - schon da (mit
30 Jahren!) wurde ihr
vom Jobcentersachbearbeiter in fast empörten Tonfall klar gemacht,
dass sie doch schon viel zu alt sei, wie sie nur auf so was kommen
kann. - Und
das bei einer Arbeitspflicht bis 67!)
Mit
freundlichen Grüßen,
Silke
Buchholz
Datum:
06.05.2019
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Eine erste Mai Rede von Silke Buchholz ebenfalls zum Teilhabechancengesetz, Hartz IV, Klassismus und Rassismus
Übrigens: der offene Brief von Christel T. "Kein Rechtsfriede ohne Grundrechte - kein Rechtsfriede mit Sanktionen" https://www.openpetition.de/!sanktionen
Kann immernoch unterzeichnet und diskutiert werden!
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